Begrüßungsrede beim „Kleinen Landesparteitag“ am 24. März 2012 mit dem Schwerpunkt Europa

Liebe Genossin­nen und Genossen,

wir tre­f­fen uns heute zum zweit­en Mal in dieser Runde und wie im Jan­u­ar angekündigt hat die heutige Beratung den Schw­er­punkt „Sach­sen in Europa“.

Als der West­en Europas noch mit sich allein zu Hause war, gab es über die Zukun­ft Europas zwei Mod­el­lvorstel­lun­gen: Entwed­er das soge­nan­nte Europa der Vater­län­der oder die Vere­inigten Staat­en von Europa. Auf dem ersten Weg bekä­men die Nation­al­staat­en schlicht ein gemein­sames Dach, unter dem jed­er in seinem Land weit­er seins macht. Auf dem zweit­en Weg würde aus den Staat­en in etwa das, was heute die Bun­deslän­der sind. Heute wis­sen wir: Bei­de Wege führen in Sack­gassen.

Es hätte kein­er Finanz­markt- oder Euro-Krise bedurft, um zu wis­sen, dass die entschei­den­den Prob­leme nicht mehr an ter­ri­to­ri­alen Gren­zen Halt machen und dass ein Weit­er so der nation­al­staatlichen Poli­tik das gemein­same Dach schlicht über­fordert, wenn nicht gar zum Ein­sturz zu brin­gen dro­ht. Und als Geschädigte ein­er unaus­ge­gore­nen Föder­al­is­mus­re­form in Deutsch­land haben wir berechtigte Zweifel daran, ob eine Über­tra­gung des Bund-Län­der-Mod­ells der Bun­desre­pub­lik auf das Ver­hält­nis der EU zu den Mit­gliedsstaat­en prak­tik­a­bel wäre.

Lange Zeit hat­te man ja den Ein­druck, dass es neben der von Hel­mut Kohl beschwore­nen Gnade der späten Geburt auch die Ung­nade des falschen Geburt­sortes gibt. Wer als Ossi geboren wurde, wird sich dessen noch als Rent­ner­in bzw. Rent­ner schon deshalb bewusst sein, weil er bei seinen Alters­bezü­gen schlechter wegkommt als der weit­er west­lich Aufgewach­sene. Aber es gibt auch einen Vorteil des östlicheren Geburt­sortes: Man ist unbe­lastet von alten Stre­it­fra­gen des West­ens, die an uns schlicht vor­beige­gan­gen sind.

Ich bin ja nicht nur für „Bild“-Journalisten „ein lustiger Erzge­birg­er“, was zutr­e­f­fend auf meine Herkun­ft und Men­tal­ität ver­weist. Mir ist dadurch die Idee des „Europa der Regio­nen“ gewis­ser­maßen von Haus aus ver­traut. Ger­ade deshalb freue ich mich ganz per­sön­lich, dass dieses Mod­ell in den let­zten Jahrzehn­ten zunehmend an die Stelle der ein­gangs erwäh­n­ten, aber inzwis­chen über­holten Kon­struk­tio­nen vom Europa der Vater­län­der bzw. der Vere­inigten Staat­en von Europa getreten ist.

Das Erzge­birge ist deutsch-böh­misch bzw. säch­sisch-tschechisch, es ist Inbe­griff ein­er die klas­sis­chen Gren­zen von Poli­tik und Sprache über­schre­i­t­en­den Region. Der diesem Kleinen Parteitag vor­liegende erste Diskus­sion­sen­twurf des Papiers „Sach­sen in Europa“ beschreibt nicht nur in geboten­er Klarheit Prob­leme und Poten­ziale Europas, son­dern er wid­met sich auch inten­siv dem Europa der Regio­nen. Deshalb gefällt er mir. Wir haben damit eine gute Grund­lage für die weit­ere Diskus­sion.

Ich werde jet­zt der Ver­suchung wider­ste­hen, all das lobend her­vorzuheben, was darin Richtiges aufgeschrieben ist, und all den Men­schen Blu­men zu über­re­ichen, die seit Jahren für das ste­hen, was Sach­sens LINKE an prak­tis­ch­er europäis­ch­er Poli­tik zus­tande gebracht hat. In manchem waren wir Vor­bild für andere, und gäbe es auch in der Poli­tik ein Urhe­ber­recht, kön­nten wir ger­ade auf diesem Feld Abmah­nun­gen an poli­tis­che Mit­be­wer­berIn­nen ver­schick­en. Doch Ihr seid sel­ber des Lesens mächtig, und im Übri­gen möchte ich mich hier nicht in die Riege der Fachref­er­enten rein­mis­chen, son­dern eine kurze Ein­führung aus Sicht des Lan­desvor­sitzen­den geben.

Der Begriff „Region“ bedarf ein­er weit­eren Schär­fung, mal ist Sach­sen gle­ichbe­deu­tend mit ein­er Region, mal ist Region etwas Neues, Bun­deslän­der- und Staaten­gren­zen Über­schre­i­t­en­des. Nicht nur darüber ist noch inten­siv zu disku­tieren, natür­lich nicht nur mit uns selb­st, son­dern mit möglichst vie­len Inter­essierten bzw. Men­schen, deren Inter­esse für dieses strate­gis­che The­ma uns zu gewin­nen gelingt. Unsere LINKE Poli­tik braucht ins­beson­dere in Sach­sen, dem Land mit der ein­st­mals läng­sten EU-Außen­gren­ze, das nun auch poli­tisch gewis­ser­maßen im Herzen Europas liegt, eine Ori­en­tierung an einem aktu­al­isierten Bild vom Europa der Regio­nen.

Die Krise des Kap­i­tal­is­mus macht eine Neubes­tim­mung von Mark­twirtschaft notwendig – für einen solchen Satz wird man ja im Jahr 2012 nicht mehr zum Staats­feind erk­lärt, son­dern find­et Beifall in allen demokratis­chen Parteien, außer der FDP. Wenn’s aber dann konkret wird, begin­nen die Unter­schiede, aus denen geistiger Wet­tbe­werb um die besten Lösun­gen erwächst. Und deshalb müssen ger­ade wir LINKE am meis­ten konkret wer­den, weil wir das größte Inter­esse an einem solchen poli­tis­chen Wet­tbe­werb haben. Denn ohne poli­tis­chen Wet­tbe­werb wird die Welt wed­er anders noch bess­er!

Das Europa der Regio­nen hat sein wirtschaftlich­es Fun­da­ment in regionalen Märk­ten. Man muss ja nicht gle­ich von regionalen Wirtschaft­skreis­läufen sprechen, die in ein­er glob­al­isierten Welt ver­mut­lich eine zu roman­tis­che Vorstel­lung sind. Aber dass wir in säch­sis­chen Spaßbädern und Kaufhäusern immer mehr tschechis­che und pol­nis­che Fam­i­lien antr­e­f­fen, trägt natür­lich zum Wach­sen regionaler Zusam­menge­hörigkeit bei. Vor­bei sind die Zeit­en, wo der Gren­zverkehr ein höchst ein­seit­iger war, getrieben von unser­er Schnäp­pchen­jagd im Nach­bar­land.

Wir als LINKE reden natür­lich am lieb­sten über Kul­tur­aus­tausch und über Bil­dung­spro­jek­te, und das soll­ten wir auch weit­er­hin tun, denn dabei geht es nicht zulet­zt um die Qual­i­fizierung von Mul­ti­p­lika­toren, die Impulse für das interkul­turelle Zusam­men­leben im Europa der Regio­nen vor Ort geben kön­nen. Aber wenn wir ein säch­sis­ches Bild vom Europa der Regio­nen entwer­fen, dann soll­ten wir den gesamten All­t­ag der Men­schen im Blick haben, das ganz nor­male Leben der großen Masse der­er, die im Regelfall von keinem der Pro­jek­te direkt erre­icht wer­den.

Wenn im Zusam­men­hang mit der konkreten Gestal­tung des Europas der Regio­nen aus säch­sis­ch­er Per­spek­tive auch pos­i­tive Poten­ziale von Mark­twirtschaft definiert wer­den, soll uns das recht sein. Denn wir wollen ja die Trans­for­ma­tion des Kap­i­tal­is­mus, aber doch wohl nicht zurück zu ein­er zen­tral gelenk­ten bürokratis­chen Plan­wirtschaft. Son­dern hin zu ein­er demokratiev­erträglichen, dezen­tral ver­ankerten sol­i­darischen Mark­twirtschaft. Die – neben­bei bemerkt – zu einem Gut­teil die Plätze in unseren Alt­städten beleben kann, in denen schon vor Jahrhun­derten Markt war. Und jet­zt oft­mals Ödnis herrscht, weil die Dis­counter auf der grü­nen Wiese am Stad­trand das wirtschaftliche Geschehen dominieren.

Die Mark­twirtschaft, die ich hier kurz skizziert habe, hat ja von Haus aus einen Hang zum Sol­i­darischen, da erstens jede Mark­t­teil­nehmerIn Inter­esse an der Stärke der anderen Mark­t­teil­nehmerIn hat, weil sie ihm ja son­st nichts abkaufen bzw. er mit ihnen keine ordentlichen Geschäfte machen kann. Und zweit­ens ist Fair­ness in diesem Rah­men ein Gebot des ökonomis­chen Über­lebens:
Wer in sein­er Gegend dafür bekan­nt ist, dass er die Leut‘ über’n Tisch zieht, wird mit einem solch Ruf keine Kun­den mehr find­en und ist in der Regel nicht in der Lage wie ein Weltkonz­er­nen, ein­fach in ein anderes Land oder in eine andere Region weit­erziehen, nach­dem sie vor Ort alles in Grund und Boden gewirtschaftet haben.

Im Europa der Regio­nen, wie wir LINKE in Sach­sen es uns vielle­icht denken – ich will Euren Gedanken nicht vor­greifen –, steckt noch viel uner­schlossenes emanzi­pa­torisches Poten­zial. Sog­ar für Demokratie und Völk­erver­ständi­gung durch sol­i­darische Mark­twirtschaft. Alles ist möglich, wenn wir den Mut haben, nicht nur über alte Gren­zen, son­dern auch den Teller­rand eigen­er ide­ol­o­gis­ch­er Vorurteile hin­weg zu denken.

In diesem Sinne wün­sche ich der Diskus­sion einen span­nen­den Ver­lauf!

Alles weit­ere zum heuti­gen Ablauf erläutert euch jet­zt….