Wer über die Vertrei­bung von Deutschen im Ergeb­nis des Zweit­en Weltkrieges reden will, darf über den deutschen Über­fall auf die Sow­je­tu­nion nicht schweigen. Ihm fol­gte nach Ein­schätzun­gen aus der Wis­senschaft der „unge­heuer­lich­ste Eroberungs‑, Ver­sklavungs- und Ver­nich­tungskrieg, den die mod­erne Geschichte ken­nt

Die Schlacht von Stal­in­grad gilt als Wen­depunkt dieses uner­messlich und unvorstell­bar grausamen Krieges – in ihr kamen über 700.000 Men­schen zu Tode, die meis­ten davon waren Sol­dat­en der Roten Armee. Mit der säch­sis­chen Erstauf­führung der „Stal­in­grad-Sin­fonie“ anlässlich der heuti­gen Ver­anstal­tung möcht­en wir einen Beitrag zum 75. Jahrestag des Gedenkens an den Über­fall auf die Sow­je­tu­nion leis­ten.

Und schon hier darf ich dem Kam­merorch­ester des Sor­bis­chen Nation­al-Ensem­bles für das Konz­ert danken, dass wir gle­ich hören wer­den.

Es wird ja zurzeit von manchen in Deutsch­land der Ein­druck erweckt, die größte Gefahr auf der Welt gehe von Rus­s­land aus. Darauf kön­nte man polemisch antworten: Das hat schon Adolf Hitler so kom­mu­niziert. Mit den eben beschriebe­nen ver­heeren­den Fol­gen.

Man sagt: Die Nachkriegszeit sei längst vor­bei.

Wir sagen: Wir wollen nicht in ein­er neuen Vorkriegszeit leben. Wer dauer­haften Frieden für die Zukun­ft will, muss sich der unfriedlichen Ver­gan­gen­heit stellen. Deshalb ist die weit­ge­hende Igno­ranz, die von der offiziellen säch­sis­chen Poli­tik diesem 75. Jahrestag ent­ge­genge­bracht wird, nicht nur eine Belei­di­gung der Men­schen in Rus­s­land, son­dern auch moralisch und ethisch unver­ant­wortlich.

Es ist richtig, dass die zu DDR-Zeit­en gepflegte Tabuisierung des The­mas Vertrei­bung been­det wor­den ist. Es ist aber ganz falsch, nun im Gegen­zug die Ursachen von Flucht und Vertrei­bung zu tabuisieren. Wer über Flüchtlinge spricht, sollte auch das The­ma Fluchtur­sachen nicht ver­drän­gen.

Heute ver­lei­ht die Links­frak­tion im Säch­sis­chen Land­tag zum zweit­en Mal ihren Preis „Gelebte Willkom­men­skul­tur und Weltof­fen­heit in Sach­sen“. Entsch­ieden hat eine Jury, in der neben Abge­ord­neten auch Per­sön­lichkeit­en der Zivilge­sellschaft vertreten sind, die sich seit Jahren auf dem Gebi­et von Migra­tion und Asyl mit Kom­pe­tenz und Ein­füh­lungsver­mö­gen engagieren. Finanziert wer­den die Preise aus dem Spenden­fonds, in den die Abge­ord­neten der Frak­tion ein­zahlen.

Als wir den Willkom­men­spreis erst­mals ver­gaben, war die Welt eine andere als heute. Inzwis­chen sprach Angela Merkel ihr „Wir schaf­fen das“ und ließ es von anderen Stück für Stück demen­tieren. Inzwis­chen gab es die Gren­zöff­nung nach dem Flüchtlings­dra­ma in Ungarn und Monate später die Schließung der Balka­n­route.

Damals wie heute ertrinken Men­schen im Mit­telmeer. Ihre Flucht endet im Tod. Damals wie heute machen sich Men­schen auf den Weg, auch wenn die meis­ten nicht mehr in der Mitte Europas ankom­men.

Zu den schreck­lichen Bildern auf den ersten Etap­pen der Flucht gesellen sich die Doku­mente des Has­s­es gegen Geflüchtete am Ziel ihrer Flucht, da ist Sach­sen lei­der deutsch­landweit führend. Viele säch­sis­che Ort­sna­men wur­den zu Sym­bol­en aggres­siv­er Frem­den­feindlichkeit, unter anderem Hei­de­nau und Fre­ital, zulet­zt aber auch Claus­nitz und – Bautzen.

Bautzen wurde aber dann sehr schnell zugle­ich zum Marken­ze­ichen für den richti­gen, ehrlichen, offe­nen und muti­gen Umgang mit einem solchen Desaster – und das Gesicht dafür wurde – man kann schon fast sagen: weltweit – der Ober­bürg­er­meis­ter der Stadt, Herr Alexan­der Ahrens. Ihm gebührt dafür unser Dank, und ich möchte ihm an dieser Stelle auch noch ein­mal ganz per­sön­lich her­zlich danken.

Wenn Grundw­erte der Gesellschaft bedro­ht wer­den, ist der Auf­s­tand der Anständi­gen wichtig, richtig und notwendig. Auch den hat es in Bautzen gegeben, nicht zulet­zt mit ein­er Man­i­fes­ta­tion auf der Friedens­brücke. Sie dür­fen aber von den Zuständi­gen, von den Ver­ant­wortlichen in Poli­tik und Ver­wal­tung, nicht allein gelassen wer­den, wie dies lei­der oft genug in Sach­sen geschehen ist. Bautzen war und ist bess­er, das Rathaus hat klar Flagge für Men­schlichkeit gezeigt.

Ent­ge­gen einem landläu­fi­gen Vorurteil sind wir LINKE nicht staats­gläu­big oder staats­fix­iert. Wir glauben an die Poten­ziale der Gesellschaft und wollen, dass Poli­tik sie fördert und nicht hemmt. In diesem Sinne ist auch unser Preis für gelebte Willkom­men­skul­tur und Weltof­fen­heit in Sach­sen Anerken­nung und Ans­porn für eine aktive Zivilge­sellschaft.

Vor einem Jahr auf der ersten Preisver­lei­hungsver­anstal­tung sagte der frühere Aus­län­der­beauf­tragte des Freis­taates Sach­sen, Mar­tin Gillo, die Her­aus­forderung der Inte­gra­tion von Migran­tinnen und Migranten sei „zu groß für die son­st üblichen Abgren­zun­gen zwis­chen den Parteien“.

Vor gut ein­er Woche durfte ich in Leipzig eine Zusam­menkun­ft der Bewe­gun­gen des Willkom­mens, der Sol­i­dar­ität, der Migra­tion und des Anti­ras­sis­mus erleben: “Welcome2Stay”. Auch hier wurde über Partei- und Milieu­gren­zen hin­weg höchst prax­isori­en­tiert disku­tiert.

Poli­tik ist eine Welt der Papiere – im klas­sis­chen bzw. über­tra­ge­nen dig­i­tal­en Sinne: Geset­zes­texte, Anträge, Beschlussvor­la­gen, Entwürfe, Res­o­lu­tio­nen usw. usf.

Bei der Papi­er-Pro­duk­tion zum The­ma Migra­tion und Inte­gra­tion wer­den wir zunehmend Beteiligte und Zeu­gen ein­er immer stärk­eren Polar­isierung. Übri­gens ganz unab­hängig von den Zugangszahlen Geflüchteter. Selb­st wenn fast nie­mand mehr die Flucht bis zu uns schafft, wird über die, die schon da sind, mit wach­sender Heftigkeit gestrit­ten.

Wir haben uns also für den Ort Bautzen entsch­ieden, weil er dafür ste­hen kön­nte, was wir aus der Her­aus­forderung Inte­gra­tion prak­tisch zum Wohle aller schaf­fen kön­nen: für die, die schon lange da sind, für die, die gekom­men sind, und für die, die noch kom­men wer­den. Bautzens tra­di­tionelle sor­bisch-deutsche Bikul­tur­al­ität ist doch ein schön­er Rah­men für ein solch­es Pro­jekt.

Wer zu uns kommt, möchte im Regelfall nicht der betreute Exot am Rande bleiben, son­dern möglichst schnell in einem neuen nor­malen All­t­ag ankom­men. Das wird nicht in geschützten Nis­chen gehen, son­dern nur inmit­ten des gesellschaftlichen Lebens. Deshalb gehört zur Flüchtling­shil­fe immer auch die Überzeu­gungsar­beit in der Gesellschaft, und auch dafür gibt es in Bautzen viele gute Beispiele für erken­nt­n­is­fördernde öffentliche Foren.

Ich freue mich, dass Herr Ober­bürg­er­meis­ter Ahrens heute nicht nur Zeit gefun­den hat, hier bei uns zu sein, son­dern auch jet­zt zu uns spricht: Bitte sehr, Herr Ahrens, Sie haben das Wort!